Einführung in Sthira und Sukha: Stabilität und Leichtigkeit im Yoga, der Psychologie und der Neurobiologie
Die Begriffe Sthira und Sukha gehören zu den zentralen Prinzipien der Yoga-Philosophie und stammen aus den Yoga Sutras von Patanjali, einem der einflussreichsten Texte der Yogatradition. In Vers 2.46 definiert Patanjali die ideale Haltung (Asana) mit den Worten:
„Sthira Sukham Asanam“Dies bedeutet: „Die Haltung sollte stabil und angenehm sein.“ Dieses Prinzip übersteigt die rein körperliche Ebene und beschreibt eine Balance zwischen Anstrengung (Sthira) und Leichtigkeit (Sukha), die sowohl auf die Yoga-Praxis als auch auf den Alltag übertragen werden kann. Diese Balance führt nicht nur zu einem bewussteren Umgang mit dem eigenen Körper, sondern auch zu einem ausgeglicheneren Geist und tieferem Wohlbefinden.
Sthira und Sukha in der Yoga-Philosophie
Sthira – Stabilität und Beständigkeit
Sthira wird oft mit den Eigenschaften Festigkeit, Kraft und Beständigkeit in Verbindung gebracht. Es beschreibt die Qualität, sich in einer Haltung fest zu verwurzeln und Kontrolle über den Körper zu behalten. Dabei geht es nicht nur um physische Kraft, sondern auch um mentale Standhaftigkeit.
Laut B.K.S. Iyengar (1966), einem der Pioniere des modernen Yoga, ist Sthira Ausdruck bewusster Präsenz: Der Körper ist geerdet, die Bewegungen sind kontrolliert und die Haltung wird mit Klarheit eingenommen.
Auf einer tieferen Ebene steht Sthira für innere Stabilität. In der Meditation beispielsweise bedeutet dies, den Geist trotz aufkommender Gedanken in der Ruhe zu verankern und nicht von äußeren Reizen ablenken zu lassen.
Sukha – Leichtigkeit und Freude
Sukha wird wörtlich mit „Wohlergehen“ oder „Freude“ übersetzt und beschreibt das Gefühl von Leichtigkeit, Komfort und Offenheit in der Praxis.
Sukha ist der Gegenpol zu Anstrengung: Während Sthira die Kraft in einer Haltung repräsentiert, ist Sukha das Gefühl von Weite und Entspannung, das es erlaubt, die Haltung ohne übermäßige Spannung einzunehmen.
Feuerstein (2003) beschreibt Sukha als essenziell, um das Gleichgewicht im Yoga zu finden. Es ist der Aspekt, der Freude und Leichtigkeit in die Praxis bringt, ohne die Stabilität zu verlieren.
Die perfekte Asana ist eine, in der sich Sthira und Sukha gegenseitig ergänzen. Stabilität schafft Sicherheit, während Leichtigkeit Freiheit gibt.
Verbindung zur modernen Psychologie
Die Prinzipien von Sthira und Sukha finden ihre Parallelen in der modernen Psychologie, insbesondere in den Bereichen Stressbewältigung, Resilienz und Achtsamkeit.
1. Resilienz: Die Balance zwischen Stabilität und Anpassungsfähigkeit
Resilienz beschreibt die Fähigkeit, Widrigkeiten zu bewältigen und gestärkt daraus hervorzugehen. Sie erfordert die Qualität von Sthira, um in schwierigen Zeiten standhaft zu bleiben, kombiniert mit der Flexibilität von Sukha, um sich an neue Umstände anzupassen.
Ann Masten (2014) beschreibt Resilienz als dynamisches Gleichgewicht zwischen Festigkeit und Anpassungsfähigkeit. Menschen, die sowohl Stabilität als auch Flexibilität kultivieren, sind besser in der Lage, mit Belastungen umzugehen.
2. Achtsamkeit und Stressbewältigung
Die Achtsamkeitspraxis – ein Kernaspekt moderner psychologischer Interventionen wie der Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) – spiegelt das Prinzip von Sthira und Sukha wider. Hier wird betont:
Sthira: Der Geist wird stabilisiert, indem er in den gegenwärtigen Moment zurückgebracht wird.
Sukha: Gleichzeitig wird ein Raum für Entspannung und Akzeptanz geschaffen, was zu innerem Wohlbefinden führt.
Neurobiologische Perspektiven: Stabilität und Leichtigkeit im Nervensystem
Die Konzepte von Sthira und Sukha finden sich auch in der Funktionsweise des autonomen Nervensystems wieder, das zwischen Aktivierung (Sympathikus) und Entspannung (Parasympathikus) vermittelt. Ein Gleichgewicht dieser Systeme ist entscheidend für körperliche und geistige Gesundheit:
1. Sympathikus – Aktivierung und Stabilität
Der Sympathikus ist für die „Kampf-oder-Flucht-Reaktion“ verantwortlich und ermöglicht Stabilität und Handlungsfähigkeit in stressigen Situationen. Er stellt die neurobiologische Grundlage für Sthira dar, da er Fokus und Kontrolle fördert.
2. Parasympathikus – Entspannung und Leichtigkeit
Der Parasympathikus, auch bekannt als das „Ruhen-und-Verdauen-System“, fördert Regeneration, Entspannung und Wohlbefinden. Dies entspricht dem Prinzip von Sukha und ist essenziell, um den Geist und den Körper in einen Zustand von Leichtigkeit zu versetzen.
3. Yoga als Ausgleich
Studien zeigen, dass Yoga die Herzfrequenzvariabilität (HRV) verbessern kann, ein Marker für das Gleichgewicht zwischen Sympathikus und Parasympathikus (Streeter et al., 2012). Regelmäßige Praxis fördert die Balance zwischen Sthira und Sukha, wodurch sowohl Stressresistenz als auch Wohlbefinden gesteigert werden.
Wenn Sthira oder Sukha überwiegen: Auswirkungen auf Yoga, Alltag, Psyche und Nervensystem
Das Ungleichgewicht zwischen Stabilität und Leichtigkeit kann sowohl in der Yoga-Praxis als auch im Alltag Herausforderungen mit sich bringen. Hier sind mögliche Konsequenzen:
Wenn Sthira überwiegt:
Im Yoga:
Die Haltungen können starr und unflexibel wirken, ohne Raum für fließende Bewegung oder Anpassung. Dies kann zu übermäßiger Anstrengung und Verspannungen führen.
Der Fokus liegt zu stark auf Perfektionismus, was Freude und Gelassenheit in der Praxis mindert.
Im Alltag:
Ein Übermaß an Stabilität kann sich als Kontrollzwang äußern, was zu Stress und Überforderung führen kann.
Starre Denkmuster verhindern Anpassungsfähigkeit und Kreativität.
In der Psyche:
Ein rigider Geist neigt zu Perfektionismus und Selbstkritik.
Es entsteht eine übermäßige Aktivierung des Sympathikus, was zu chronischem Stress und Erschöpfung führen kann.
Im Nervensystem:
Dominanz des Sympathikus, was zu Übererregung, erhöhtem Blutdruck und einer verminderten Fähigkeit zur Regeneration führt.
Wenn Sukha überwiegt:
Im Yoga:
Haltungen können instabil und wenig geerdet sein, was die Sicherheit in der Praxis beeinträchtigen kann.
Ein Mangel an Fokus führt dazu, dass die Tiefe und Stärke der Praxis verloren geht.
Im Alltag:
Zu viel Leichtigkeit kann zu Nachlässigkeit und einem Mangel an Zielstrebigkeit führen.
Es fällt schwer, Entscheidungen zu treffen oder langfristige Verpflichtungen einzugehen.
In der Psyche:
Übermäßige Flexibilität kann zu einem Gefühl von Haltlosigkeit führen.
Menschen könnten Schwierigkeiten haben, sich in stressigen Situationen zu behaupten.
Im Nervensystem:
Überaktivierung des Parasympathikus kann sich in Antriebslosigkeit und einem niedrigen Energielevel äußern.
Die Anwendung von Sthira und Sukha im Alltag
Die Integration von Sthira und Sukha in die Praxis und das Leben bietet eine wertvolle Möglichkeit, innere und äußere Balance zu finden. Stabilität gibt uns die Kraft, in Herausforderungen zu bestehen, während Leichtigkeit uns erlaubt, flexibel und offen zu bleiben. Gemeinsam schaffen diese beiden Prinzipien die Grundlage für ein gesundes, freudvolles und ausgeglichenes Leben.
Im Alltag bedeutet dies:
Stabilität, um fokussiert und klar Entscheidungen zu treffen.
Leichtigkeit, um loszulassen, was nicht mehr dient.
Yoga lehrt uns, diese Prinzipien bewusst zu kultivieren – auf der Matte und darüber hinaus. Wenn wir in einer Haltung oder Situation sowohl die Festigkeit als auch die Freude finden, verkörpern wir das wahre Wesen von Sthira Sukham Asanam.
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